29
Mai
2009

Stricken lernen

Tracey Emin Terminal 1

Tracey Emin 'Terminal 1'

 

Natürlich schreibt man bei hellstem Tageslicht einen anderen Text als in zappendusterster Nacht. Jetzt bereue ich es ein bißchen, gestern nächtens nicht mehr die Kiste angeworfen und eingetippt zu haben, was mir so leicht durch die Denkkanälchen floss.
Ich hätte es wenigstens in das Notizbüchlein schreiben können, das seit Jahren neben meinem Bett liegt und in dem sich bislang lediglich zwei Bemerkungen befinden; hineingekritzelt mit Bleistift: "Feuilletonschönheiten wie Ingo Schulze" und "Schlag ins Bewußtseinskontor 385 € netto für 40 h Arbeit in der Woche".

Bei ersterer Notiz habe ich mich wahrscheinlich wieder einmal während der mitternächtlichen Lektüre einer überregionalen Tageszeitung über die feuilletonistische Verhätschelung eines ostdeutschen Schriftstellers aufgeregt - mir wäre ja Millionen Mal lieber, wir hätten mehr ostdeutsche Clubs in der Bundesliga (ach, Cottbus...). Die zweite Notiz muss korrekterweise lauten "385 € netto monatlich für 40 h Arbeit in der Woche" und bezieht sich vermutlich auf das verhasste und unlängst gekündigte Praktikum.

Mit Feuilletonsschönheiten im weiteren und Arbeits/Losigkeit im engeren Sinne mag nun auch mein mittelschwerer Knick im Stimmungshoch zu tun haben. Vielleicht liegts aber auch einfach nur am rückläufigem Merkur, denn ich bin ja nicht die einzige Bloggerin, die derzeit das ein oder andere innere Kämpfchen auszufechten hat. Eigentlich fühlt sich meine gegenwärtige Verfassung, insbesondere das ständige Losheulen (kein Rotz-und-Wasser-Heulen, eher so ein augenwässerndes Schluchzen) sehr prämenstruell an, dabei könnte ich zyklusmäßig nicht günstiger dran sein. Mist, jetzt kann ich meine somatoforme Konfusion nicht mal darauf schieben.

Jedenfalls war es, also das Symptom (Beklemmung im Brustkorb, Atemunruhe), die letzten zwei Tage so arg, dass ich erstmalig nicht zum holländischen Pfingstsegeln mitgefahren bin. Als der Chauffeur heute Mittag vor der Abfahrt kurz da war und fragte, was los sei, saß ich nur hilflos da wie eine Schülerin, die die Antwort nicht weiß.

Aber ich weiß sie ja, ich höre beständig das Rauschen des Subtextes.

Und es hilft alles nichts, ich muss immer wieder neu lernen, das Symptom als Symptom zu begreifen und nicht als Ursache. Klapse, Therapie und Cipralex haben zwar immerhin den kleinen Kobold Angst vertrieben, aber an den stahlummantelten Nucleus meiner Seelchennot kommen die drei wohl auch nicht ran.

Gestern Nacht konnte ich es ganz genau beschreiben, da gab es nicht den Funken einer Selbstzensur. Bei Helligkeit jedoch neigt man dazu, sich (und die anderen) zu schonen. Man muss ja irgendwie durch den Tag kommen. Und ich bin nicht wirklich unglücklich. Das nicht. -

Künstlerin müsste man sein und stricken können.

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tinius - 29. Mai, 18:38

Seelchen, möge Dir doch die Sonne scheinen und mögen die Nächte wortlos vorübergehen. ;) LG tinius

Anousch O. - 29. Mai, 19:10

Wie Seelenbalsam. Danke!
books and more - 29. Mai, 19:21

Ja, jetzt wüßte man freilich wirklich gerne, was Ihnen da so klar durch die Denkkanäle gondelte, hinter Ihrer nachtschönen venezianischen Stirne! Auch über den Unterscheid [sic] zwischen Symptom und Ursache erführe man gerne Näheres in diesem düsterheiteren Spiel der Masken! Fände man vielleicht selbst leichter den Weg zum Palazzo der ...

[Scusi. Metaphernfuror. Wirres Zeug. Anstrengender Tag!]

Anousch O. - 29. Mai, 19:29

Nicht nur, dass es nichts zu scusieren gibt, Ihr 'Metaphernfuror' ist mal wieder die Rialtobrücke zwischen Schwermut und Heiterkeit.
Anousch O. - 29. Mai, 19:35

[Zum Unterschied zwischen Symptom und Ursache vielleicht etwas nach der Pasta Canaletto.]
books and more - 29. Mai, 19:45

Ja, da lasse ich am Abend die Beine zwischen den Balustern & Rialti meines kleinen Blogs (oder des Ihren) hinunterbaumeln und gedenke freundlich meines Apothekers, der mir heute meine bestellten Pillen, die ich wegen Staus auf der Autobahn nicht vor Geschäftsschluss abholen konnte, in den Briefkasten werfen lies! Da lagen schon zwei Liebesgaben von Frl. Amazon. Also ein schöner Beginn eines sommerlichen Abends, solche Heimkehr! Dazu Kommentare mit Anousch tauschen und das Leben ist ein gezuckerter Mandelkern!
books and more - 29. Mai, 19:52

@Canalettoni

Das nehme ich einmal als vages Nudel-Date und reibe mir schon Parmesankäse & Hände! Eine Gondel wird kommen ...
walhalladada - 30. Mai, 15:39

Weder Stricken noch Sticken - was Sie brauchen ist eine Tätigkeit, die Ihren Lebensunterhalt sichert. Diese 'Arbeit' wird Sie zwar auch irgendwann einmal anöden, aber in dieser Wüste kann man/frau sich immerhin Oasen schaffen. Über kurz oder lang werden Sie in diesen recht zweifelhaften Genuss kommen, daran führt kein Weg vorbei, liebe Anousch. Sollen wir wetten?

Anousch O. - 31. Mai, 15:17

Naja, Stricken statt sticken bringt halt eine bessere Google-Plazierung, aber Spaß beiseite, denn Sie schreiben vom Ernst des Lebens. Im Ernst. Was fehlt, ist das 'Faktum' Arbeit. Faktum, facere = machen, tun. Mithin Handwerk. Ich suche gerade danach. Aber es müssen noch wenigstens einige Stunden zum Schreiben bleiben. Näheres besser im postalischen Separee.

Ach und: Wetten? Gerne. Wetten verliere ich immer.
kid37 - 30. Mai, 21:09

Sie als Rosemarie Trockel? Oder eine Art Mike Kelley? Wir sollten das mit der Blogger-Kommune noch einmal ins Auge fassen. Ich kann z.B. gut Stullen schmieren.

Anousch O. - 31. Mai, 15:19

Von nichts anderem rede/träume ich doch ständig. Nur dass es mir wirklich ernst damit ist. Bierernst sozusagen.
twoblogs - 31. Mai, 12:43

Wie gut ich das kenne, liebe Anousch: die selbstzensurlose Naechtlichkeit. Was ja auch – im Arbeitssinn – zweckmaessig erscheint, ist dann aber wiederum eine recht trockene Selbster-kenntnis: Wenn du so weitermachst, diesen Stress nicht verringerst, sondern sogar begruesst – es kommt ja schliesslich dann immer auch Druckbares etwas heraus -, dann steht der Zusammenbruch vor der Tuer.

Ansonsten, und das werden Sie vielleicht auch kennen, kann diese naechtliche Bloesse, dieses grueblerische Studium des Spiegelbilds auch etwas Erhellendes haben: es gibt zwar kein Entkommen, aber die richtigen Ideen und Formulierungen sorgen fuer Witz und Ironie und lassen das Marionettentheater mitlachen. ;–)

Bonne chance! Audrii

Anousch O. - 31. Mai, 15:29

Liebe Audrii, das ist ja fast seelenverwandtschaftlicher Inzest, den Sie/wir da treiben. Und ein Talent zur Erheiterung des (nächtlichen) Marionettentheaters bescheinige ich mir auch. Das wenigstens. Sogar in der Pschüschatrie hat man mir ein selbstironisches Gekaspere meinem Elend gegenüber attestiert.

Gibt es Sie eigentlich wirklich, liebe Audrii? Oder sind Sie bloß eine Phantasie?

Cordialement,
Anousch
twoblogs - 1. Jun, 21:43

Interessante Frage, liebe Anousch, die mir so noch nicht gestellt wurde. Welche Realitaetsbeweismittel benoetigen Sie? ;–)

À bientôt! Audrii

PS: Im Moment erinnere ich mich uebrigens an meinen Radfahranmerkung zum Rhonetal.
Anousch O. - 2. Jun, 21:49

Oh, vorerst keine. Ich mag es, Sie in alle Farben und Figuren zu imaginieren.
twoblogs - 2. Jun, 22:59

Lieb, dass Sie das sagen. Und schoen, dass Sie mich an diese "Twopics"-Zeit erinnert haben. Und daran, dass ich nach ca. 20 Beitraegen es eingestellt habe, die Einzelbilder weiter in diese Sammlung einzureihen. Auch deshalb, weil es ja two blogs heisst, Bild & Text, und ich habe diese immer als zusammengehoerig empfunden, auch als gleichwertig. Zumindest bis zu dem Einschnitt Anfang Februar 2009, ab dem ich begonnen habe, den Text sehr kurz zu halten, vor allem aus zeitlichem Stress. Das lief etwa parallel damit, dass ich die Grenze der twoday-Speicherfaehigkeit erreicht hatte und ich die Bilder "auswaerts" lagern musste.
Bonnui! Audrii
katiza - 3. Jun, 16:57

Künstlerin müsste man sein und stricken können.

Danke für diesen wunderbaren Satz, den ich aus tiefem Herzen unterschreiben kann und ...lass den Kopf nicht hängen Sweetheart, es wird alles wieder schön...


Anousch O. - 3. Jun, 21:05

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