Stricken lernen
Tracey Emin 'Terminal 1'
Natürlich schreibt man bei hellstem Tageslicht einen anderen Text als in zappendusterster Nacht. Jetzt bereue ich es ein bißchen, gestern nächtens nicht mehr die Kiste angeworfen und eingetippt zu haben, was mir so leicht durch die Denkkanälchen floss.
Ich hätte es wenigstens in das Notizbüchlein schreiben können, das seit Jahren neben meinem Bett liegt und in dem sich bislang lediglich zwei Bemerkungen befinden; hineingekritzelt mit Bleistift: "Feuilletonschönheiten wie Ingo Schulze" und "Schlag ins Bewußtseinskontor 385 € netto für 40 h Arbeit in der Woche".
Bei ersterer Notiz habe ich mich wahrscheinlich wieder einmal während der mitternächtlichen Lektüre einer überregionalen Tageszeitung über die feuilletonistische Verhätschelung eines ostdeutschen Schriftstellers aufgeregt - mir wäre ja Millionen Mal lieber, wir hätten mehr ostdeutsche Clubs in der Bundesliga (ach, Cottbus...). Die zweite Notiz muss korrekterweise lauten "385 € netto monatlich für 40 h Arbeit in der Woche" und bezieht sich vermutlich auf das verhasste und unlängst gekündigte Praktikum.
Mit Feuilletonsschönheiten im weiteren und Arbeits/Losigkeit im engeren Sinne mag nun auch mein mittelschwerer Knick im Stimmungshoch zu tun haben. Vielleicht liegts aber auch einfach nur am rückläufigem Merkur, denn ich bin ja nicht die einzige Bloggerin, die derzeit das ein oder andere innere Kämpfchen auszufechten hat. Eigentlich fühlt sich meine gegenwärtige Verfassung, insbesondere das ständige Losheulen (kein Rotz-und-Wasser-Heulen, eher so ein augenwässerndes Schluchzen) sehr prämenstruell an, dabei könnte ich zyklusmäßig nicht günstiger dran sein. Mist, jetzt kann ich meine somatoforme Konfusion nicht mal darauf schieben.
Jedenfalls war es, also das Symptom (Beklemmung im Brustkorb, Atemunruhe), die letzten zwei Tage so arg, dass ich erstmalig nicht zum holländischen Pfingstsegeln mitgefahren bin. Als der Chauffeur heute Mittag vor der Abfahrt kurz da war und fragte, was los sei, saß ich nur hilflos da wie eine Schülerin, die die Antwort nicht weiß.
Aber ich weiß sie ja, ich höre beständig das Rauschen des Subtextes.
Und es hilft alles nichts, ich muss immer wieder neu lernen, das Symptom als Symptom zu begreifen und nicht als Ursache. Klapse, Therapie und Cipralex haben zwar immerhin den kleinen Kobold Angst vertrieben, aber an den stahlummantelten Nucleus meiner Seelchennot kommen die drei wohl auch nicht ran.
Gestern Nacht konnte ich es ganz genau beschreiben, da gab es nicht den Funken einer Selbstzensur. Bei Helligkeit jedoch neigt man dazu, sich (und die anderen) zu schonen. Man muss ja irgendwie durch den Tag kommen. Und ich bin nicht wirklich unglücklich. Das nicht. -
Künstlerin müsste man sein und stricken können.