12
Okt
2008

Flug übers Kuckucksnest (On LYRICA)

Anousch ist wieder da (im Netz), aber noch immer hier (im Auffanglager).

Die zwei besten Dinge vorweg: Es geht mir gut. Und: Ich bin endlich im Besitz eines Notebooks. Und noch endlicher im Besitz eines UMTS-Sticks. Denn leider ist der Psychiatrie-Neubau das einzige Gebäude des Klinikums, das noch über keinen Patienten-Internet-Zugang verfügt. Ich drohte mit Verzweiflung und Depression und da hat mein Psychiater die Notwendigkeit eines Patienten-Netzes erkannt und kümmert sich. Aber solange kann ich nicht warten und so habe ich mir für viele Euros den O2 Loop Surf Stick gekauft. Eigentlich hat mich die Internet-Abstinenz mehr gequält als mein Leiden, das nach Meinung der Ärzte schon erheblich genug ist. (Doktor beim Aufnahmegespräch: "Puuuuuhhhh. Es gibt viel zu tun, aber wir können Sie heilen." - Anousch: "Heilung ist zu viel verlangt. Alles was ich will ist Linderung.")
Und die spüre ich zuweilen.

Ich bekomme ein Medikament mit dem wirklich wunderschönen und einfach unglaublichen Namen LYRICA. Es ist kein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, worüber ich anfangs ein wenig enttäuscht war, denn so ein Antidepressivum adelt ja auch in gewisser Weise. LYRICA ist als Schmerz- und Epilepsiemittel entwickelt worden, aber es hat sich herausgestellt, dass es auch bei Angst-und Panikstörungen hilft, weil es irgendwie den Hirnstoffwechsel reguliert. Außerdem ist es vergleichsweise nebenwirkungsam. D. h. 2-3 Stunden nach der morgendlichen Einnahme fühle ich mich leicht benebelt, wobei das mitunter nicht nur unangenehm ist, denn es löst kleine Räusche aus wie damals unter Haschisch. Gelegentlich verspüre ich sekundenkurze Euphorieschübe. Nach der Abendeinnahme merke ich fast gar nichts, außer dass ich so schnell einschlafe wie eine Bäuerin zur Erntezeit. Die psychogenen Nebenwirkungen sollen nach einiger Zeit nachlassen. Und die Angst. Wobei ich ja keine Angst habe. Jedenfalls wüsste ich nicht wovor. Nur einzig vor dem Symptom. Das ist in den vergangenen Monaten so mächtig geworden, dass ich mir nicht einmal mehr um etwas Sorgen machen kann. Nur um meine Atmung und um meinen Brustkorb. Natürlich sind alle organischen Werte in Ordnung. Nicht nur das: Ich bin überall im Idealbereich. Eine kerngesunde Anousch.

Dieses Wochenende hatte ich "therapeutischen Urlaub" und der verlief besser, als befürchtet. Es gibt z.Z. zwei Welten: Die behütete hier drinnen, inmitten von Menschen, denen es genauso geht (oftmals noch weitaus schlimmer) und die da draußen, eine Welt voller Trigger. Der Chauffeur kam aus Berlin und ich habe ihm die Topographie meiner Jugend gezeigt: mittelalterliches Gemäuer, Kopfstein gepflasterte Gässchen, sakrale Räume.

Dazu und zu den Hauptattraktionen meines Anstalts-Aufenthaltes ab morgen und dann täglich mehr. In acht Stunden weckt uns die fröhliche Stimme der Schwester und dann gibt es Frühsport - was mir wirklich Spaß macht.

Die Anstalt S. Freud Therapietafel_6.10.08 Therapietafel_9.10.08 Freud erneut Kapelle

['Sportspiele' meint Tai-Chi ]

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books and more - 13. Okt, 00:56

TERRA LYRICA

'LYRICA' - unglaublich! Die Stationsleitung hatte allerdings noch etwas einzutragen vergessen...



Allerbeste Grüße, Ihr
A.

Anousch O. - 13. Okt, 19:47

Herrlich!
Wir treffen uns im Entspannungsraum, ich bring' auch was zum Knabbern mit.
(Und nicht vergessen: Bloggen Sie immer schön langsam und gleichmäßig ein und aus!)
schneck08 - 13. Okt, 01:15

die topographie der jugend mit einem eigens angereisten chauffeur? nicht das schlechteste mittel, würde ich sagen. bekanntes kann auch wohl tun, manchmal wenigstens jedenfalls vielleicht. und frühes kneippsches tautreten allemal, in diesem sinne, schnell gute nacht.

albannikolaiherbst - 13. Okt, 05:23

Welch ein Teil von Satz!

"manchmal wenigstens jedenfalls vielleicht". Deutlicher ist der aus Zweifel und Hoffnung gewundene Strang nicht zu malen.
Anousch O. - 13. Okt, 20:35

"manchmal wenigstens jedenfalls vielleicht" steht jetzt als imaginäre Leuchtschrift am Kopfende über meinem Anstaltsbettchen. - Statt Tautreten jogge und spazier ich über goldknisterndes Ahornlaub.
walhalladada - 13. Okt, 10:21

Sehr schön, wieder von Ihnen zu hören, liebe Anousch! Wenn ich das so lese, bekomme ich nicht übel Lust auch einmal in diese 'behütete' Welt abzutauchen. Glauben Sie mir, ich könnte es momentan wirklich brauchen! Der Gedanke, Lyrik zu schlucken statt zu lesen ist - wenn sie denn anschlägt - faszinierend!

Gregor Keuschnig - 13. Okt, 10:31

Ich nenne das "Zauberbergsyndrom" (und kenne diesen WUnsch auch). Hier scheint es aber ärger zu sein, weil notwendig.
walhalladada - 13. Okt, 11:22

Über Notwendigkeiten schweige ich mich an dieser Stelle besser aus!
Anousch O. - 13. Okt, 20:55

@Schein

Ich kann eine solche Möglichkeit nur gutheißen. Ganz im Ernst. Warum noch zögern? Wenn Sie es brauchen, tun Sie es! Gehen Sie zu Ihrem Arzt und lassen Sie sich einweisen. Und machen Sie es wie ich: Gehen Sie in eine andere Stadt. Aber gehen Sie in eine schöne Stadt. Erfurt ist wunderschön und da wir gerade dabei sind: Station 54 "S. Freud" - Sie glauben gar nicht, wie ich innerlich gekreischt habe, als ich dessen gewahr wurde. Ich fasse diese Namensgebung ja noch immer als subtilen Gag auf.
Sie und ich zusammen in einer Nervenheilanstalt: Besser geht's nicht...
books and more - 13. Okt, 21:11

@'S. Freud'

Da hätte ich allerdings auch gekreischt bzw. innerlich sofort die Digicam gezückt, zwanghaft, gewissermaßen die Hand schon an der Mouse! Man weiß ja gar nicht, was da genialer ist, Sie Glückliche: Der Name der Station oder des lyrischen Medikaments!
Anousch O. - 13. Okt, 21:47

@Gregor

"Zauberbergsyndrom" - Klausur, Harren, Umsorgen, Konversation, Musik, Zeit. All das. Aber ohne Kampf (um und für sich selbst) wäre es der reinste Luxus, nämlich Langeweile.
Aber so hat es zweifellos (auch) seinen Reiz (und tatsächlich lohnt ein Aufenthalt ohne Leidensdruck nicht).
Anousch O. - 13. Okt, 22:06

@Albert

...und nicht zu vergessen, dass das Klinikum Helios heißt!

Umgarnt von großen Namen kuriert es sich gut.
Umgarnt von großen Bloggern noch besser.
books and more - 13. Okt, 22:09

Fehlt noch, dass es dort einen Hofrat gibt! Oder Liegekur!
Wünsche wohl zu ruhen, Ihr
A.
Anousch O. - 13. Okt, 22:42

Auch bildgebende Verfahren und "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken."


Träumen Sie,
Ihre A.
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