12
Sep
2009

Falunrot

Dann sitzt man am Bahnhof von Puttgarden, allein, inmitten von Möwengekreisch, Taubengegurre und Hasengehoppel. Ein paar Tränen rinnen noch und spülen die restlichen Bröckchen Mascara mit, das, was nicht bereits an den Innenseiten der Sonnenbrillengläser klebt. So endet ein wunderschöner Sommer.
Hinter dem Windpark ist das Meer, aber das Meer ist mir im Moment ziemlich egal. Der Bahnhof von Puttgarden erinnert mich ein bisschen an den Bahnhof von Subotica, nur dass in Subotica mehr los ist und nicht so viele Gleise zwischen Gräsern und Unkraut verschwinden.

Der ICE schlängelt sich aus dem dicken Bauch der Fähre. Ich nehme gegenüber einem älteren Ehepaar aus Hamburg Platz, wir tauschen uns über die Unbequemlichkeiten des ICEs aus, ich erzähle auf Nachfrage, dass ich aus Stockholm komme, heute schon seit 11 Stunden unterwegs bin mit Auto, Fähre und nun Zug und bemerke einige Augenblicke später, dass ich gar nicht zurückgefragt habe, wo die beiden ihren Urlaub verbracht haben. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit verspüre ich Neigung mich mit Fremden zu unterhalten, bin aber etwas ausgelaugt. Ich möchte unbedingt meine Kontaktlinsen spülen, bräuchte etwas zu essen, etwas richtiges zu essen und zu trinken, habe aber lediglich Schokokekse und eine Dose schwedisches Leichtbier dabei. Ich käme mir jetzt allerdings etwas primitiv vor, vor diesem distingierten Pärchen eine Büchse Bier zu öffnen. Also nuckel ich die restlichen Schlückchen Wasser und betrachte meinen leeren Magen als Exerzitium. So wie die ganze Situation.

Es ist der 11. September 2009, 18.42. Nicht dass die Welt vor 24 Stunden mehr in Ordnung gewesen wäre als jetzt. Nur ein bisschen vielleicht. Ich war sehr fröhlich, schlenderte über die Götgatan und war in einem seltenen Zustand des Einklangs mit mir und der Welt. Ich sagte etwas eigentlich Schönes, denn es kommt nicht allzu oft vor, dass ich mich affirmativ über Menschen in Fußgängerzonen äußere. Ich erhalte ein Widerwort. Ein gewichtiges Argument. Ich ringe um Fassung. Schnitt. Aus. -

In Lübeck steigt ein hanseatischer Großkotz ein und erzählt dem Schaffner, seinen Tischpartnern und der ganzen Welt, dass er heute schon von Bremen nach Bergamo und zurückgeflogen sei. Bergamo - das hört sich schön an, verheißungsvoll; nur weiß ich gerade nicht, ob das in der Schweiz oder Oberitalien liegt. Na jedenfalls in dieser Ecke, da bin ich mir sicher. Angesichts dieses großspurigen Laberns, der imperialen Gesten und des zuhälterhaften Solariumchics schaltet mein innerer Ossi auf Abwehr. Da lobe ich mir einen naiv-sächselnden Sachsen.
In Hamburg habe ich eine Stunde Aufenthalt, kaufe mir eine Mini-Pizza und endlich den dritten Band der Stieg-Larsson-Trilogie.

Beim Platz-suchen im ICE nach Berlin begehe ich den großen Fehler und höre nicht auf meine innere Stimme, gebe den Affekt nicht nach, mich anderswo hinzusetzen. Ich merke sofort, dass mir der Typ hinter mir gewaltig auf die Nerven gehen wird. Er telefoniert lautstark über sein verfucktes Leben. Ich blicke mich wutentbrannt um, bei Handy-Leuten, die diese intime Grenze nicht mehr spüren ist konfrontationslose Kommunikation eh hoffnungslos. Ein Mann kommt und beansprucht den Platz des Typen für sich, er zeigt ihm sogar sein Platzreservierung, doch das Arschloch tut so, als wolle er nicht kapieren, dass es diese Form der Spontanreservierung gibt. Er wird erst pampig, dann aggressiv und droht dem rechtlichen Platzinhaber mit Schlägen. Mir reichts, ich stehe auf und drohe ihm, jetzt die Polizei zu rufen. Daraufhin haut er mir Beschimpfungen um die Ohren, nimmt aber wenigstens seine Sachen und macht sich vom Acker, allerdings nicht ohne mir noch etwas Demütigendes hinterher zu rufen. Ich spüre, dass ich jetzt die Kraft und Wut habe, ihm einen Kick an die Kehle zu versetzen, zwinge mich aber, mir zu vergegenwärtigen, dass Gewaltanwendung nicht mit meiner beruflichen Neuorientierung zu vereinbaren ist. Immerhin könnte ich ihn danach erstversorgen.
Also lasse ich ihn ziehen und lese weiter in meinem Buch, es heißt "Vergebung". Vielleicht liebe ich deswegen Lisbeth Salander so sehr, diese anorektische Rächerin, weil sie mit ihren 1,50 m alle perversen Frauenhasser fertig macht.
Mir perlen erneut ein paar Tränen die Wangen herab, aber ich schaffe es tatsächlich mich sofort zu beruhigen. Tränen müssen sich lohnen. Andererseits war das die zweite Beleidigung mein Aussehen betreffend innerhalb von 27 Stunden.

Tief in der Nacht steige ich am Ostbahnhof aus. Berlin ist dreckig und prollig. Ich denke an Stockholm. Wenn meine Familie mitzöge, würde ich auswandern. Erst als ich in Rixdorf ankomme, fühle ich mich ein wenig versöhnt.

In Schweden sagt man att åka till landet - aufs Land fahren und meint damit, dass etwas am Häuschen repariert werden muss. Ich habe viele Defizite, aber mit Werkzeug kann ich gut umgehen. Und hoffentlich auch mit Waffen, denn ich bin ja allein in meinem falunroten Cottage.
Angst habe ich keine. Nur manchmal Sehnsucht, vielleicht.

Ingarö September 2009

 

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