Gleichsam*
In der Erzählung Katzensilber wird wie in vielen Erzählungen Stifters von einem erschütternden Naturerlebnis berichtet. In diesem Falle ist es ein gigantischer Hagelschlag, von dem es heißt:
Und auf den ganzen Berg und auf die Täler fiel es so nieder. Was Widerstand leistete, wurde zermalmt, was fest war, wurde zerschmettert, was Leben hatte, wurde getötet. Nur weiche Dinge widerstanden, wie die durch die Schlossen zerstampfte Erde und die Reisigbündel. Wie weiße Pfeile fuhr das Eis in der finstern Luft gegen die schwarze Erde, daß man ihre Dinge nicht mehr erkennen konnte.
So wie eine zeichentheoretische Analyse des Stifterschen Spätwerks eine »Auslöschung aller Formen von Differenz« behauptet, so hat Stifter auf der Ebene der Deskription immer wieder an der Auslöschung aller Formen und Gestalten durch die Gewalten der Natur gearbeitet. Was aber in Katzensilber noch von rein epischer Substanz war, wird in seiner letzten Niederschrift Aus dem bairischen Walde Chiffre für das katastrophale Finale seines Lebens. Der Bericht nimmt Bezug auf biographische Ereignisse im November 1866. Nachdem Stifter das ganze Jahr ruhelos von einem Aufenthaltsort zum nächsten gezogen ist, ließ er sich am Ende in Lackenhäuser nieder, seinem bevorzugten Erholungsort. Dort wurde er schließlich nicht nur von seiner »paranoischen« Furcht vor der Cholera heimgesucht, sondern auch von einem zweiundsiebzigstündigen Schneesturm, der die Heimreise verhinderte und seine Todesangst ins Unerträgliche trieb.
Die Erzählung hält die behauptete Balance zur Autobiographie nicht ganz und kippt immer wieder in die Fiktion – bezeichnenderweise an Stellen, die das Verhältnis zur seiner Ehefrau Amalia betreffen. Die Sorge um sie und der zärtliche Ton sind Manipulationen der Tatsache, dass Stifter zu diesem Zeitpunkt mit ihr abgeschlossen hatte und ganz und gar in Sorge um sich war. Die »bängliche Ahnung« gilt nicht seiner Gattin, sondern dem eigenen Missempfinden. Seine Cholera-Furcht steigerte sich in eine Obsession. Manisch verfolgte und notierte er den Verlauf der grassierenden Seuche, unentwegt überlegte er neue Fluchtwege. Ohne dass der Begriff Cholera fällt, schreibt sich in das Weiß des Textes die »schwarze« Krankheit ein. Das Pathographische des Schreibens koinzidiert in der letzten Erzählung mit dem Pathologischen des Körpers. Weiß ist das pathologische Kolorit und in den Schneeverwehungen imaginiert Stifter eine prämortale Vision. Die Farbe Weiß und das Eingeschlossen-Sein als zwei dauerpräsente Motive der Erzählungen Stifters werden ins Extreme gesteigert: das fetischistische Weiß der Mädchenkleider, der Marmorstatuen und Hausfassaden wächst sich zu einem »weißen Ungeheuer«, zu einer differenzlosen, amorphen Masse aus. Das Zuschließen von Räumen wird zu einer zermürbenden Klaustrophobie.
Der Bericht beginnt in bester suspense-Manier, in einer für Stifter unüblichen Nüchternheit des Erzählens. Zunächst ist vom Aufenthaltsgrund und allerlei Organisatorischem die Rede, und nur das »ängstliche Bangen« annonciert den weiteren Verlauf. Schließlich zieht sich über etliche Seiten hinweg eine minutiöse Beschreibung des Landschaftspanoramas. In kristallklarer Dreidimensionalität erscheinen die Wälder, Hügel, Häuser, Schluchten, Berge und Farben, um dann jäh in eine monochrome Opazität umzuschlagen:
Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder gerade empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, von allen Seiten gegen alle Seiten, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort wie Stunde an Stunde verrann. Und wenn man von dem Fenster weg ging, sah man es im Geiste, und man ging lieber wieder zum Fenster.
Im »weißen Fall« entfärbt sich nicht nur die sichtbare Welt, es wird auch das Zeitgefühl, die Zeitlichkeit aufgehoben. Das Nichtendenwollende steigert sich zu einer existentiellen Bedrohung. Nunc stans: »Das Thermometer stand unbeweglich auf 0.« Doch die Textmaschine läuft weiter, auch wenn »das weiße Absolutum« schon »das Ende der Schrift« und ergo des Lebens präfiguriert. (Denn worüber soll der Phänomenologe Stifter schreiben, wenn alle Konturen verwischen?) Doch unermüdlich bis zum Schluss schreibt er an gegen die Angst, setzt gegen das weiße Stäuben schwarze Buchstaben. Ein Brief nach dem anderen wird geschrieben und hinausgesandt in die Ungewissheit der Stürme: »Aber der Schlitten kam nicht, und es kam keine Nachricht«.
Stifter war ein Autor nicht nur der Dinge, sondern auch der letzten Dinge, einer Eschatologie, die das Leben immer als eines von Mortifikation Bedrohten begreift. Die weiße Apokalypse des Schneesturmes hat eine schwarze Entsprechung in der Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842. Auch dieses Naturschauspiel steigert sich bei Stifter zu einer autobiographischen Fiktion, in der er das Erhabene zu einem endzeitlichen Totalphänomen stilisiert:
Durch die Schrift seiner Sterne hat er uns versprochen, daß es kommen werde nach tausend und tausend Jahren, unsere Väter haben diese Schrift entziffern gelernt, und die Sekunde angesagt, in der es eintreffen müsse; wir, die späten Enkel richten unsere Augen und Sehröhre zu gedachter Sekunde gegen die Sonne, und siehe: es kommt –
Die Sonnenfinsternis steht am Anfang und der Schneesturm am Ende des künstlerischen Schaffens Stifters. Erhaben und unheimlich sind beide, doch war die Sonnenfinsternis eine Epiphanie, so ist der Schnee nur mehr Apokalypse. Dass die Sonne sich verfinstert und das Schneien schier kein Ende nehmen will, ist dem Dichter Stifter ein unfassbares Skandalon, dessen abstruse Dialektik von Licht und Dunkel, von schwarz und weiß, von Bewegung und Stillstand im Oxymoron seinen Ausdruck findet: »weiße Finsternis«, »starres Wirbeln«, und: »Es war immer dasselbe, das Außerordentliche.« Das Oxymoron ist die Figur, die über die Dichotomie das Universelle zu bezeichnen vermag, die Möglichkeit an zwei Orten der Schrift präsent zu sein, schreiben an den Enden der Parabel gleichsam.
Der Schluss des Berichtes Aus dem bairischen Walde ist eine einzige Halluzination. Von zuviel Schlaf, von Krankheit, Angst und einem »Ergriffensein der Nerven« wird der Autor heimgesucht, und trotzdem deliriert er sich »jene Tage unter die glücklichsten meines Lebens«. Ein weißes Rauschen bemächtigt sich seiner: »Ich sah buchstäblich das Lakerhäuser-Schneeflirren durch zehn bis vierzehn Tage vor mir.« Buchstäblich – in der Symbiose mit der psychogenen Wirkung ist die Schrift endgültig pathographisch. Das Beklemmende aber ist der unaffektierte Ton und das Tröstliche einer Sprache, die bereits von der Psychose affiziert ist: »Nur durch geduldiges Fügen in das Ding und durch ruhiges Anschauen desselben als eines, das einmal da ist, ward es erträglicher und erblaßte allmälig«.
Adalbert Stifter hat sich ein letztes Mal dem Phantasma der Worte hingegeben.
[*Auszug/Letztes Kapitel aus meiner Magisterarbeit über Adalbert Stifter, August 2007]
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